03.11.2013

Der Träumer

Die Ampel steht auf rot. Wie soll sie auch sonst stehen? Ich muss ja über die Straße. Es kommt zwar kein Auto, und viele der anderen Fußgänger gehen einfach, aber ich warte. Nicht, dass ich jetzt besonders viel Zeit hätte, naja, eigentlich bin ich sogar mal wieder etwas zu spät, aber ich habe ehrlich gesagt auch keine allzu große Lust, heute pünktlich zu kommen.

Allmählich brechen die ersten Sonnenstrahlen durch die graue Himmelsdecke, und versprechen einen wunderschönen Tag. Oder zumindest wunderschönes Wetter... So geil klingen 10 Schulstunden am Montag nun auch wieder nicht.
Lustlos streift mein Blick über die rechts und links an mir vorbei laufenden Leute. Am liebsten würde ich wieder zu Boden sehen, die Kopfhörer in die Ohren stecken und das neue Album laufen lassen, dass ich gestern gezogen habe. Aber Mum meckert immer, wenn ich so rum Laufe, und ich seh ja ein, dass es mir nicht gut tut, immer auf die Füße zu starren. Und das mit der Musik? Da sind mir gestern wieder mal die Kopfhörer verreckt. Vermutlich ist die Garantie abgelaufen... hab mal etwas von einer Sollbruchstelle gehört, und ich hab sie dieses Mal echt vorsichtig behandelt...

Eigentlich kann auf dieser Straße gar kein Auto kommen. Die letzten, die an dem Weg noch wohnen sind ein paar alte Omas, die das Haus eh nie verlassen. Da kommt höchstens mal ein Pfleger. Irgendwie habe ich das Gefühl, sie haben diese Ampel nur für nich gebaut. Als billigen Vorwand, zu spät zu kommen. Die Ausrede zählt bei Adolf zwar nicht, aber wenigstens reicht sie, mich zu überzeugen. Und irgendwie brauche ich das. Ich will nicht das Arschloch sein, dass sich vor der Schule drückt. Ich lache immer über die Trottel. Aus denen wird auch sicher nichts gescheites. Ich komme nur dann zu spät, wenn ich einen Grund habe.

Plötzlich rempelt mich jemand von hinten an. Irgend so ein... Gerade als ich mich umdrehen will sehe ich, wie die Person an mir vorbei geht. Die rote Jacke kenne ich doch... und als ich nachzudenken beginne, dreht sie sich um und lächelt kurz.

Nicole. Mein Zorn ist sofort verfolgen und ich renne ihr über die Straße hinterher. Wenn es einen Grund gibt, in die Schule zu gehen, ist sie es. Sie sitzt zwei Plätze neben mir. Strahlt mit ihren langen goldenen Haaren ein Licht aus, dass selbst Mathe einigermaßen erträglich macht. Außerdem meldet sie sich häufig, das lenkt den Lehrer von mir ab.
"Hey Nicole", begrüßte ich sie, lege meinen Arm um ihre Schulter und küsse sie auf die Lippen.
Sie ist so phantastisch. Und liebevoll.
Lächelnd erwidert sie meinen Gruß. Nimmt meine Hand.
Gemeinsam gehen wir die Straße entlang bis sie mich plötzlich am Arm zieht.
"Hast du auch keine Lust auf 10 Stunden Schule?"
Ich schaue sie überrascht an. Eigentlich dachte ich immer, sie mag den Unterricht.
"Natürlich nicht, wer hat die schon?"
"Komm, dann lass uns abhauen."
Sie grinst mich an und zieht mich auf den kleinen Seitenpfad, den wir öfter im Sommer entlang laufen, wenn wir keine Lust auf die überfüllte Hauptstraße haben.
Wir gehen auf dem Kiesweg entlang und ich mag gar nicht glauben, dass sie so frech und unartig sein kann.

An einem Baum halt wir an.
"Wir kriegen echt Ärger, wenn wir heute...", fange ich an, doch sie unterbricht mich mit einem Kuss.
Eine wundervolle Weise, unterbrochen zu werden...
Als sie ihre Lippen lösen will halte ich sie fest. Umklammere sie und koste jeden Augenblick vollends aus. Sie ist so zart und weich und schön und lieb und süß...

Die Ampel schaltet auf grün. Gerade als Mario an mir vorbei stolziert und seinen durchtrainierten Arm um Nicoles Schulter wirft. Ihr gefällt das gar nicht. Angewidert duckt sie sich unter seinen großen Pranken hindurch und sieht hilfesuchend zu mir.
"Komm Baby hab dich doch nicht so." Mario packt ihren Arm. Er ist gut einen Kopf größer als ich, von seinem Körperbau ganz zu schweigen, Ich bin da leider eher gebrechlich.
Aber Mut und Entschlossenheit triumphieren immer über rohe Gewalt. Und ich kann Nicole nicht mit ihm allein lassen.
"He, lass sie in Frieden!", herrsche ich ihn an und haste schnellen Schrittes auf ihn zu. Natürlich gibt er sich nicht so einfach geschlagen, aber wenigstens lässt er sie los.
"Ach komm, was willst du?" Er baut sich vor mir auf, aber ich lasse mich nicht einschüchtern. Erst recht nicht vor Nicole.
"Wenn du sie noch einmal anfasst..."
Gekonnt weiche ich seinem Haken aus. Er will sich tatsächlich mit mir anlegen? Schnell wie der Blitz schlage ich zurück. Treffe sein massives Kinn. Um uns bildet sich schnell eine kleine Menschenmenge. Die anderen Schüler eilen herbei, halten sich aber vorsichtig, leise tuschelnd zurück. Nochmal schlägt Mario zu, und noch einmal gelingt es mir, seinem Fausthieb auszuweichen. Ich sag ja, schnell wie der Blitz.
Die Menge jubelt, und Mario sieht für Sekundenbruchteile aus, als begreife er die Welt nicht mehr. Wundert mich auch nicht. Bei dem bisschen Hirn. Mein Faustschlag wirft ihn zu Boden. Hektisch und verwirrt sucht er das weite. Krabbelt zuerst auf allen vieren, dann rafft er such auf, hält seine Wange, und tut das einzig Gesunde für ihn: aus meinem Blickfeld zu verschwinden. Plötzlich steht Nicole vor mir. Lächelt dankbar, nimmt meinen Arm.
"Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann..."

Der Gong schlägt zur ersten Stunde. Nicole und Mario sind schon zwischen den dutzenden Anderen verschwunden, die sich durch die enge Aulatüre ins Treppenhaus zwängen.

Ich warte noch ein wenig. Eigentlich seltsam, dass ich doch noch so pünktlich gekommen bin. Und jetzt muss ich hier auch noch bis fünf Uhr bleiben...
Scheiß Montage! Und gleich auch noch Englisch in der ersten Stunde. Ich kann zwar ganz gut Englisch, aber der Lehrer nervt. Ständig darf ich ihm etwas an die Tafel schreiben. Wie blöd ist das denn? Solche Methoden hat man bei meinem Großvater verwendet. Der Opa soll sich mal patch 2000 ziehen, oder, noch besser, endlich komplett abtreten... Und dann bin ich noch der einzige, der überhaupt was versteht, was ihn immer mich nehmen lässt, und mich zum Klassennerd macht.

Kommt davon, wenn man die Games auf Englisch zockt, und die neuesten Serien gleich im Original saugt. Aber da bin ich doch echt nicht der Einzige, nur weil wir dank Papas Job eine DSL Leitung haben...

Der Zustrom ins Treppenhaus reißt allmählich ab, und ich packe meinen Ranzen. Boa ist der Montags immer schwer... Scheiß Bücher. Ich will nen Laptop. So wie Papa. Früher oder später werden alle Bücher da drauf passen. Wenn die Dinger mal ganze Gigabyte speichern können. Dann kann man sich das Schleppen sparen.

Hinter der Tür zum Treppenhaus steht zu meiner Überraschung... Nicole.
Ihre großen Augen blicken fast schon verzweifelt auf mich.
"Hey, was ist denn los?", frage ich sie, und lege meinen Arm freundschaftlich auf ihre Schulter.
"Hast du die Englisch Hausis?"
Ich lege meinen Rucksack ab.
"Natürlich, aber ich dachte du schreibst nicht gern ab. Ich mein, du verstehst doch immer alles..."
"Nein, das von letzter Stunde nicht. Bei der scheiß Grammatik steig ich schon ewig nicht mehr durch."
Mir kommt es vor, als würde sie gleich anfangen zu weinen.
"Ich lerne nur immer die Wörter artig...", schluchtst sie.
"Aber das ist doch kein Problem." Meine Stimme wird tief und Männlich. So richtig beruhigend und Einfühlsam.
"Komm, ich erkläre es dir..."

Natürlich bin ich wieder der letzte im Raum. Selbst Adolf ist schon da. Hämmert mit seinem Zeigestock auf den Diaprojektor. "Benedikt!"
"Sorry, Mr. Wiesenbaum. I know, I'm late..."
Kurz überlege ich, dann drehe ich mich nochmal zu ihm um.
"If I hadn't been late, i wouldn't be myself, Sir."
Das zaubert ein Grinsen auf sein altes Gesicht. Kein "ich bin zufrieden" Grinsen, mehr ein "nächstes Mal bist du dran," Ginsen, aber das ist mir egal. Adolf kriegt mich nicht. Der kanns ja selber nicht richtig.

Ich setzte mich an meinen Platz.
"Alter, wo warst du schon wieder?" Mein Nachbar reicht mir die Hand zum Gruß.
"Tja, Mario. Wärste nich so blindlings deiner Perle hinterher gerannt, hättest du mich vielleicht gesehen..."